Moderne Reitkunst

Gedanken zur Reitkunst

Reiten Lernen ist wie Kuchen backen

Reiten lernen ist wie Kuchen backen?

Nun, zumindest ist die Vorgehensweise eine ähnliche!

Wir brauchen die Zutaten, im Fall des Kuchen Backens zum Beispiel Mehl, Eier, Milch und Butter; im Fall der Reitkunst sind die Zutaten das Pferd, der Mensch und die Hilfengebung.

Dann brauchen wir ein Rezept, oder eine Vorgehensweise, um die Zutaten in der richtigen Reihenfolge und in einem bestimmten Verhältnis zusammen zu bringen.

Und es sind Rahmenbedingungen vonnöten, die ich berücksichtigen muss. Habe ich keine Kastenform, so kann ich keinen Kastenkuchen backen, dann muss ich das Rezept an eine runde Kuchenform anpassen, sprich ist keine Bande zur Hand, so muss ich meine Arbeit daran ausrichten.

Zunächst einmal aber brauchen wir eine Vorstellung, was wir mit den Zutaten fabrizieren wollen, vielleicht eine Sachertorte? Je genauer die Vorstellung dessen ist, desto eher können wir die Zutaten so kombinieren, dass am Ende das gewünschte Produkt heraus kommt. So kann etwa ein Bild einer Sachertorte schon einmal dazu beitragen, dass wir eine Vorstellung von der Form und der Art des Kuchens bekommen, und daraus ableiten, dass es sich dabei um einen Schokoladenkuchen handelt. Je genauer ich den Kuchen kenne, den ich backen will, desto besser wird die Vorstellung davon. Am besten ist es natürlich, den Kuchen schon einmal probiert zu haben, dann kenne ich die Teigstruktur, den Geschmack und das Mundgefühl. So verhält es sich auch mit dem Erlenen von Lektionen. Ich kann sie auf einem Bild anschauen, dann erkenn ich, das die Lektion Schulterherein (vereinfacht gesagt) aus einer hereingeführten Schulter und einem vermehrt untertretenden inneren Hinterbein besteht. Wenn ich diese Lektion schon einmal geritten bin, weiß ich außerdem, dass durch das untertretende Hinterbein die diagonal Schulter gehoben wird. Und durfte ich diese Lektion auf einem perfekt geschulten Pferd genießen, konnte ich die Kraftübertragung der Hinterhand bis ins Genick spüren. Die genaue Kenntnis über den Gehalt einer Lektion, oder des Kuchen, kann ich also erst nachvollziehen, wenn ich es erfahren habe. Erst wenn ich in Wien die echte Sachertorte probiert habe, weiß ich, was eine Sachertorte beinhalten muss, und was vielleicht noch zu den Versuchen gezählt werden sollte 😉

Nun haben wir eine Vorstellung, es soll ein Schokoladenkuchen werden!

Was brauche ich dafür?

Nun, vorerst etwas Mehl, Zucker, Eier und Butter. Ist kein Zucker vorhanden, wird es eine ziemlich bittere Angelegenheit, genauso wie das Schulterherein kein Schulterherein werden kann, wenn das Verständnis des äußeren Zügels fehlt.

So muss ich mir erst den Zucker besorgen, also dem Pferd, oder mir selbst, den äußeren Zügel beibringen, bis wir gelernt haben, dass dieser die äußere Schulter vor dem Ausfallen bewahrt!

Jetzt geht es ans Kneten! … Moment… vielleicht sortieren wir erst einmal! Damit kein Chaos entsteht, brauchen wir Vorbereitung! Welche Zutat nehme ich zuerst, in welcher Reihenfolge füge ich die Zutaten hinzu? Muss ich vielleicht zuerst die Butter mit dem Zucker schaumig rühren? Wenn ich das ganze Mehl auf einmal in die Schüssel gebe, gibt es Klumpen? Kann ich überhaupt ohne Rühgerät anfangen??

Genauso sortiere ich mich bei der Arbeit mit dem Pferd:Bin ich in der richtigen Position, hört mir das Pferd zu, stehen die Wirbel schon in einer Reihe und in der richtigen Rotation?

Dann erst stelle ich mir die Fragen: mit welcher Hilfe fang ich an, wann füge ich die nächste Hilfe hinzu? Das hängt ganz davon ab, was schon da ist. Im einen Fall muss ich mit dem äußeren Zügel anfangen, im anderen Fall mit dem inneren Schenkel.

Wenn dann alle Zutaten vermischt sind, bin ich schon am Ziel? Soll der Teig eigentlich so flüssig sein? Dafür brauchen wir Erfahrung. Habe ich einen Kuchen schon öfter gebacken, weiß ich, dass die Eier unterschiedlicher Größe sein können, oder dass sich Mehlsorten unterschiedlich verhalten. Und je mehr Erfahrung ich bereits im Sachertorte-Backen gesammelt habe, desto eher weiß ich, wie ich auf Abweichungen im Rezept reagieren muss. Vielleicht waren die Eier etwas größer als die im Rezept, dann hat die Erfahrung gelehrt, dass ein wenig mehr Mehl benötigt wird. Die Zugabe von Milch würde das Problem wahrscheinlich nicht beheben.

So kann ich auch nur durch Erfahrung und Ausprobieren erkennen, was zu tun ist, wenn die Stellung verloren geht – biegender Schenkel, die Hand, oder einfach ein Nachgeben; je nach Ausgangssituation und Ursache hilft nur die richtige Kombination der passenden Hilfen!

Je besser ich allerdings die Wirkung der Zutaten kenne, desto besser werde ich einschätzen können, welche die jeweils hilfreichste sein wird, um den gewünschten Zustand zu erreichen!

Die wichtigste Zutat fehlt noch: Die Schokolade! Um zu wissen, wie Schokolade ich brauche, muss ich den gewünschten Geschmack kennen, dann kann ich abschätzen, wie viel Schokolade ich zum Grundteig hinzufügen muss.

In der Reitkunst geht es natürlich nicht um Geschmack, sondern um Gefühl. Wie viel inneren Schenkel darf ich geben, ohen dass das Pferd anfängt zu schieben? Wie viel Abstellung darf ich verlangen? Spüre ich, ob sich das Pferd trägt oder nicht? Ohne Gefühl kann ich keine Kunst erreichen, so wie ich ohne Geschmack keinen Teig abschmecken kann!

Endlich kann der Teig gebacken werden, und zwar genau 60 Minuten lang! Tatsächlich? Ich würde den Kuchen allerdings aus dem Ofen nehmen, wenn ich einen verbrannten Geruch bemerke… Umgekehrt gebe ich dem Teig auch noch Zeit, wenn die Mitte noch nicht durchgebacken ist, denn roher Kuchen lässt sich so schlecht mit Couverture verzieren… Die Beobachtung ist also ein wichtiger Punkt, den man nicht außer Acht lassen sollte!

Ebenso verfährt man mit der Ausführung einer Lektion. Ich muss achtgeben, ob ich nicht schon zu lange daran bin, und das Schulterherein schon wieder schlechter wird, dem Pferd also nichts mehr nützt, weil vielleicht die Kraft fehlt und stattdessen Verspannungen entstehen. Vielleicht ist es aber auch so, dass das Pferd noch etwas Zeit braucht, um die richtige Schwungübertragung zu finden, dann habe ich dem Pferd nicht geholfen, wenn ich die Lektion vorzeitig abbreche.

Es reicht also nicht, einfach nur das Rezept nachzubacken, oder ohne Rezept die Zutaten in den Mixer zu werfen. Die Kombination aus Wissen und Erfahrung, Achtsamkeit und Gefühl gibt uns erst die Fähigkeit, das Reiten zur Kunst werden zu lassen!

Denkt also bei der Reitkunst an die Sachertorte, lasst euch nicht frustrieren, wenn der erste Kuchen ein Marmorkuchen wird! Noch ist kein (Konditor-)Meister ist vom Himmel gefallen